Vom Kiosk am Voralpsee aus sĂŒdwestwĂ€rts blickend, sieht man, jenseits des Wassers steil ansteigend, einen breiten, pyramidenförmigen, unten bewaldeten Berg. Dieser trĂ€gt an seinen Flanken und Gipfeln die Namen Förenchopf2, Glatthalde sowie, weiter im Hintergrund und höher, die junge Bezeichnung Höchst (Ă€lter Schönplangg2). Beidseits dieses Bergstocks liegen die zwei AlptĂ€ler Ischlawiz und Naus, das erstere mehr westwĂ€rts, das zweite gegen SĂŒden zu. Ein uralter Alp- und Transitweg fĂŒhrt durch Ischlawiz auf den schroffen Bergpass namens Nideri, von wo aus er jenseits sehr steil hinunter gegen LĂŒsis und Walenstadt verlĂ€uft. Dagegen ist der Weg durch das Nausner TĂ€lchen hinauf auf der sanft geschwungenen SattelflĂ€che von Gulms brĂŒsk zu Ende, denn was von Norden her aussieht wie ein einfacher Ăbergang ins Seeztal, zwischen dem Sichelchamm im SĂŒden und dem Höchst im Norden, stĂŒrzt jenseits unvermittelt ĂŒber mehrstufige FelswĂ€nde und Wildheuplanken gegen das Dörfchen Tscherlach ab und ist nicht gangbar. Nördlich von Gulms, jenseits der felsig abfallenden Kante namens Stellisatz, steigt in der nordwestlichen Ecke des Nausner Obersess eine ausgedehnte, meist steile, sonnige Alpweide vom Obersesszimmer westwĂ€rts zum Gipfel des Höchst an, im oberen Teil in einen eigentlichen Kessel einmĂŒndend. Zwei ĂŒbereinander liegende Hangverebnungen waren dort den Sennen als Under bzw. Ober Algglaboden bekannt. Diesem Gebiet namens Alggla auf 1700-1900 m ĂŒ. M. und dessen Namen soll heute unsere Aufmerksamkeit gelten. Dabei werden wir auch die weitere Umgebung im Auge zu behalten haben, wie sich gleich herausstellen wird.
Vom Voralpsee aus ist die Hochweide Alggla nicht sichtbar. Sie liegt unmittelbar hinter dem Horizont (Pfeil), an der sĂŒdöstlichen Flanke des Bergkegels namens Höchst (Ă€lter: Schönplangg), rechts ĂŒber der SattelflĂ€che von Gulms zuoberst im Alptal Naus. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Bevor ich vor ĂŒber fĂŒnfzig Jahren die in meinen Augen endgĂŒltige ErklĂ€rung des Namens vorbrachte, hatte nur ein einziger Namensammler das Deutungsproblem aufgegriffen: Es war im Jahr 1890 der Werdenberger Lokalhistoriker und Major David Heinrich Hilty (1851-1915). Dieser hatte sich, unterstĂŒtzt durch seinen MĂŒnstertaler Dienstfreund Major Thomas Gross, ausgiebig mit der Werdenberger Namenlandschaft beschĂ€ftigt. GemĂ€ss ihrer Meinung sollte Alggla auf romanisch acla f. âMaiensĂ€ss, frĂŒhe Weideâ, auch âVorwinterungâ zurĂŒckgehen. Diese Vorstellung ist nun freilich in doppelter Hinsicht abzulehnen: Weder passt die extreme Hochsömmerungsweide Alggla hierzulande zu einem Maienberg bzw. einer Vorwinterung, noch liesse sich der lautliche Ăbergang von acla zu Alggla plausibel erklĂ€ren.
Vom Margelchopf her lÀsst sich die Hochweide namens Alggla leicht erkennen (Pfeil). Hier im Vordergrund die Alp Isisiz, dahinter die abfallende Kette der Wissen Frauen, dann die AlptÀler Naus und Ischlawiz, ganz hinten rechts die östlichen Churfirstengipfel. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Nein, hier muss anders vorgegangen werden, und meine These ist die folgende: Der Name Alggla enthĂ€lt das altromanische falcla f. âSichelâ (aus dem lat. Diminutiv falcula âkleine Sichelâ, aus lat. falx, falcis f. âSichelâ): Das heutige Romanische kennt das Wort ebenfalls noch, allerdings ist es dort zu farcla geworden, weil dort offenbar die Aufeinanderfolge von zwei -l-  (falcla) in der Aussprache als störend empfunden wurde und so die Verschiebung des ersten -l- zu -r- veranlasst hat (man spricht in solchen FĂ€llen von Dissimilation). Bei uns ist nach dem Sprachwechsel zum Deutschen das alte *Falcla in der gĂ€ngigen mundartlichen Verbindung uf Falcla (unter Loslösung des F-) zu uf Alggla geworden.
Alggla hat ĂŒbrigens noch einen berĂŒhmten Namensvetter (ohne dass dies weit herum bekannt wĂ€re), nĂ€mlich den Bergnamen Falknis (Triesen FL/FlĂ€sch GR)! Andrea Schorta musste dessen Herkunft im RĂ€tischen Namenbuch - sichtbar ratlos - offenlassen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass der Fall auch hierher gehört. In meinem stark benĂŒtzten und mit vielen Notizen versehenen Handexemplar des RĂ€tischen Namenbuches 2 finde ich auf S. 683 (unter Falknis) diesen meinen Bleistifteintrag: "Evtl. FĂĄlklis < artr. falclas 'Sicheln' (vgl. Alggla Grabs beim Sichelkamm)." Und ich notierte weiter: "Die Idee kam mir am 25.10.1990 bei der LektĂŒre von Terra Plana 1990/3, S. 8". Hier haben wir also einmal die genau datierte "Geburt" einer Namendeutung! Sie ist durchaus eindeutig: Falknis geht auf die rtr. Mehrzahlform falclas zurĂŒck. Auch hier trat nach der Verdeutschung eine formale Verschiebung ein (zwar wieder etwas anders als bei rtr. farcla, aber nicht weniger plausibel; denn auch so liess sich die angestrebte erleichterte Artikulation ja erzielen). Hier war es das zweite -l-, das sich, um der Wiederholung zu entgehen, zu -n- verschob (falclas > *falcnas > Falknis). Sachlich bezog sich die Mehrzahl offenbar auf die dem Berggipfel sĂŒdwestlich vorgelagerten, von der Luziensteig aus gut sichtbaren FalknistĂŒrme; spĂ€ter wurde deren Bezeichnung dann auf den ganzen Berg ĂŒbertragen.
Doch zurĂŒck zu unserem Alggla, fĂŒr dessen Deutung wir dem Leser noch die sachliche BegrĂŒndung schulden. Ist dort oben etwas «Sichelartiges» zu sehen? Von der Grabser Seite her gesehen: nein. Aber wenn wir etwas weiter herumschauen, tritt in der Tat der Zusammenhang ĂŒberzeugend zutage.
Hier sieht man in nordöstlicher Blickrichtung, also vom Seeztal aus, die gewaltige geologische Faltung, um die es hier geht. Links der Berggipfel genannt Höchst, dann die Hochweide Alggla (Pfeil), der Bergsattel Gulms und rechts davon der Sichelchamm, dahinter der dunkle und höhere Gamsberg (GĂ€msler) sowie der Sichli (!). Im Hintergrund, durch die BerglĂŒcke gut sichtbar, die Rheinebene, rechts hinten Vorarlberg, links die sĂŒdliche Alpsteinkette. Diese prĂ€chtige Aufnahme verdanken wir der Webseite "CSI Alps" der UniversitĂ€t Bern ("Geologie als Spurensuche erlebbar machen": "Geo-Highlights: Falten"). Quelle: https://www.csi-alps.unibe.ch/?page_id=2689.Â
VergegenwĂ€rtigen wir uns nochmals die eingangs gegebene weitrĂ€umige Ortsbeschreibung rund um den Bergsattel Gulms, und betrachten wir obenstehendes Bild, wo uns das Entscheidende unmittelbar entgegentritt! WĂ€hrend das Weidegebiet Alggla die SattelflĂ€che Gulms nordseitig abschliesst, erhebt sich sĂŒdlich von dieser (rund einen Kilometer von Alggla entfernt) der Gipfel namens Sichelchamm. Auch hier also wieder das Sichel-Motiv, diesmal auf deutsch! Namengeber dieses einem steilen Hausdach gleichenden Gipfels ist offenkundig jene gewaltige geologische Ăberfaltung an seiner SĂŒdwestflanke, die mĂ€chtige, sichelförmig gekrĂŒmmte Felsschichtung, welche, vom Walensee her nicht zu ĂŒbersehen, in imposantem Bogen sich von von der Spitze des Sichelchamms auf rund 2100 m bis gegen 1600 m ĂŒ. M. herunterzieht und dann westwĂ€rts unter Alggla hindurch erneut ansteigt, wo sie wiederum himmelwĂ€rts abbricht. Welch gewaltige KrĂ€fte mĂŒssen hier ĂŒber die Jahrmillionen hinweg gewaltet haben!
Es leuchtet also ein, dass auch das Gebiet Alggla noch zur "Sichel-Zone" gehört, wenn auch der Sichelchamm etwas weiter entfernt liegt. Die auffĂ€llige geologische Faltung erstreckt sich ja ĂŒber das ganze Gebiet zwischen den erwĂ€hnten beiden Eckpunkten. Sicher galt zu romanischer Zeit die Bezeichnung "bei der Sichel" durchaus fĂŒr ein grösseres Gebiet; wahrscheinlich bezeichnete schon der romanische Name *Falcla (> Alggla) ĂŒberhaupt den ganzen Raum rund um den BergĂŒbergang Gulms. Und so wurde dann nach dem Sprachwechsel auch der Gipfel, der sich nordöstlich ĂŒber der Faltung erhebt, als «der Felskamm bei der Sichel», eben als Sichelchamm, bezeichnet. Sogar der noch weiter von der Faltung entfernte Sichli östlich des Gamsbergs folgt noch diesem Benennungsmuster, denn der Sichli ist nochmals 'der (Berg) bei der Sichel'.Â
Gewiss ist, dass die "Sichel"-Bezeichnung nicht von Grabs her gegeben wurde, denn von dort aus war die namengebende Formation ja gar nicht zu sehen - nein, der Name muss im Sarganserland geprĂ€gt worden sein. Er wurde dann allerdings auch bei den Grabser Ălplern bekannt. Erst in deren Mund schrumpfte dann nach dem Sprachwechsel auch die unverstandene Bezeichnung *Falcla > Alggla auf eine vergleichsweise marginale Zone im "Sichel-Raum" zusammen.Â
Und zum Schluss noch etwas: Direkt sĂŒdseitig unter dem Sichelchamm und weit unterhalb der besagten Felsfaltung findet sich im SteilgelĂ€nde zwischen BĂŒchel und Verachta, am Westrand der Alp Sennis (Walenstadt), ein weiterer Name desselben Typs, nĂ€mlich Falggele, ein teils bewaldeter Wildheuhang auf rund 1600 m ĂŒ. M. Auch hier ist die Herkunft aus altromanisch falcla unverkennbar. Und dieser Fall liegt recht weit von der eigentlichen Faltung entfernt, auf die er sich indes ebenso offenkundig bezieht. Er bildet also einen weiteren Beleg zur StĂŒtzung unserer Alggla-Herleitung, deren BegrĂŒndung wir hiermit abschliessen können.
Das Benennungsmotiv "Sichel" ist in der Umgebung der geologischen Faltung recht weit gestreut - auf deutsch und auf romanisch. Landeskarte der Schweiz, 1:25'000, Blatt Buchs (1135).
© Copyright by Werdenberger namenbuch | Impressum | ABG | DATENSCHUTZ | Cookie Settings
Webdesign by MultiDigital